Ein neuer Tag, eine neue Reise.
Natürlich, wie immer, beginnt die Reise 3 Stunden vor Verlassen der Wohnung. Ich beobachte aufmerksam Vorläuferzüge und Busse, um mir ein Bild der Verkehrssituation zu bilden. Der Bus zum Bahnhof ist pünktlich alle 15 Minuten überraschend 6-7 Minuten zu spät … Außer wenn er nicht fährt. Das erkennt man aber gut daran, dass keine Pünktlichkeit angeschrieben ist. Also außer wenn er nicht kommt und die Zeit trotzdem hochzählt, was man daran erkennt dass er pünktlich ist, obwohl es im Kontext unrealistisch erscheint.
Ich spekuliere also hier, dass dass er pünktlich 6-7 Minuten verspätet kommt.

Nächster Punkt, der Zug. Meine Verbindung ist einfach: Ein Bus, ein Zug. Der Zug fährt stündlich. Ich sehe, mein Zug ist schon “ausgefallen”, d.h. er steht noch angeschrieben und taucht in allen Suchen auf, aber alle Stops - jeder einzelne - ist gestrichen. Ok, nicht weiter drüber nachdenken welche Statistik sie damit wieder umgehen wollen, wir haben uns 50km gen Nordosten zu repositionieren. Nur halt jetzt ne Stunde später. Ist ok, ich hab keinen Zeitdruck, geh ich halt ne Stunde später aus der Behausung. Immerhin wars schon weit im Voraus angeschrieben.

Also einen Bus früher zu einem Zug später.

Zeit vergeht, es ändert sich nichts. Ich verlasse meine Höhle. Der Plan ist:
Auf den Bus warten, 5 Minuten früher, falls er doch nicht zu spät ist (also weniger zu spät). Mit dem Bus zum Bahnhof. Dort 20 Minuten warten, weil die Verbindung auf den Bus abgestimmt ist, der noch nie Pünktlich genug war die Abstimmung zu erwischen. Den Zug nehmen und gechillt 55 Minuten später am Ziel schön frisiert und höchst versiert dem Gefährt entspringen.

Ich stelle mich an den Bussteig. Prüfe natürlich weiterhin aufmerksam sämtliche Bahnapps (weil die ja alle leicht verschiedene Daten anzeigen). Situation unverändert, Zug pünktlich, Busse normalverspätet.
Der Bus kommt! Pünktlich (6-7 Minuten verspätet)! Wie vor 5 Minuten von der App zugegeben und vor 4 Stunden von mir vorhergesagt. Das verblüfft mich, normalerweise ist da nochmal ordentlich Streuung drauf. Glück gehabt.

Im Bus nen Sitzplatz geschnappt, hingesetzt, und Schock!
Als vorbildlicher ÖPNV-Nutzer ist natürlich das erste, was ich noch beim hinsetzten mache, das krampfhafte einem Tick ähnelnde Neulanden der Verkehrsapps.
Mein Zug ist gestrichen. Scheiße. Und ich sitz schon im Bus … Also erstmal Lage erfassen.

Denen ist aufgefallen, dass der vorbildlich pünktliche bereits weit vorher mit 0 Minuten Verspätung angeschriebene Zug plötzlich und gänzlich unerwartet vor mehrere Minuten nicht am Startbahnhof abgefahren werden konnte. Glücklicherweise hat das Zeitreisende Zugpersonal einen Teleporter auftreiben können, mit dem sie nun pünktlich 3 Halte weiter entlang der Strecke starten können. Ein Halt nach meinem. Vielleicht noch zu erreichen, ich hab ja 20 Minuten.

Der Bus hält an seiner ersten Haltestelle nach der meinigen. Zusteigende Gäste erblicken einen panischen auf sein Mobilgerät einschlagenden Irren. Die bisherige Reisedauer beträgt 60 Sekunden.

Lage erfasst. Die eine Zugstation entspricht 30 Minuten Busfahrt, unrealistisch. Aber es gibt S-Bahnen. 2 Stück! Eine fährt zum Ankunftszeitpunkt des Busses ab. Die andere 12 Minuten später, 10 Minuten vor dem gestrichenen Zug, und kommt immernoch 7 Minuten vor dessen Abfahrt am nächsten Halt an. Ich fasse Hoffnung. Ich kenne den Bahnsteig, sind zwar viele Treppen aber in 30 Sekunden ist die Strecke für mich machbar.

Ich kenne jedoch auch den Bus und das Zusammenspiel aus Ampelschaltungen entlang der Strecke, die so auf Autos getimed sind, dass ein Aus- bzw. Einsteigen von Fahrgästen an jeder Haltestelle eine zusätzliche Ampelphase provoziert. In Momenten wie diesen, ist es schmerzlich sich wiedermals bewusst zu werden, dass mein Bus für 1600m Fahrstrecke 8 Minuten benötigt. Wenn es gut läuft.

Es läuft nicht gut, andere Personen besitzen die Frechheit in meinem verspäteten Bus zuzusteigen. Ich frage mich, wieviel Geld ich dem Fahrer zahlen müsste, damit der einen der Halte ignoriert, so wie er meinen vorher fast ignoriert hätte.

Der Bus kommt an. Ich sprinte an einigen Personen vorbei. Auf der Treppe kommen mir bereits die ausgestiegenen Fahrgäste entgegen. Ich komme oben an, und sehe den Zug 10 Meter entfernt losfahren.
Naja, war abzusehen aber nen Versuch wars wert.

Ich widme mich wieder den Verkehrsapps. Keine der beiden S-Bahnen sind mir bekannt. Die erste war mit zwei Minuten Verspätung angeschrieben und dem gegenüber etwas zu früh. Das merke ich mir für zukünftige Fahrten. Diese Art von Informationen erlauben es mir, überhaupt anzukommen anstatt einer von diesen gestrandeten Reisenden zu werden, die von der Bahn in Buxdehude ein nicht existierendes Hotel zum übernachten bezahlt bekommen.

Die zweite S-Bahn, hat keine Verspätung angeschrieben. Heißt dass jetzt sie hat keine Angabe, oder sie ist ausgefallen, oder ist noch nicht losgefahren und die kommt noch? Weiß ich nicht, ich kenn die Linie nicht. Weiß nicht mal wie das allgemein im Moment so mit S-Bahnen steht, nehm ich sonst nicht. Sollte ich das wissen müssen? Nein. Muss ich aber. Tu ich aber nicht. Also hab ich keine Ahnumg und warte weiter, wie bestellt und nicht abgeholt, am Bahnhof.

Ich komme zur Ruhe. Ist auch ganz nett mal nichts tun zu können. Der Tunnelblick weitet sich. Ich sehe die S-Bahn ist am Bahnsteig auf dem einzeiligen Elektronischen Display, aus Zeiten zu denen LCD noch Dmark pro Pixel kosteten, angeschrieben. Pünktlich. Erfahrungsgemäß heißt das nicht viel, aber wird schon nicht schaden.

Also steh ich am Bahnsteig, und ahne schon diverse Szenarien vorraus, allen voran der nächtliche Aufenthalt im Zwischenstopp, wenn die S-Bahn dort unweigerlich 10 Minuten zu spät eintrifft und mich dort strandet.

Der Abfahrszeitpunkt kommt … Die Bahn nicht. Überrascht mich wenig, das nennt sich Erwartungshaltung niedrig setzten. Der Startbahnhof ist 4 Minuten weg, aber die Bahn packt das schon.

5 weitere Minuten, langsam werde ich schon nervös. Viel Zeit gibt es nicht mehr, bevor ich garnicht erst einsteigen brauche.

Dann tut sich was. Der Zug hat eine Verspätung in der App angeschrieben. Ist vor 2 Minuten mit 7 Minuten Verspätung Losgefahren. Super, ist also gleich da.

Ich erinnere mich an das eine mal, als ich ähnlich verzweifelt auf einen ICE wartete, der schon vor 30 Minuten hätte ankommen sollen, der in allen informationen mit 2 Minuten Verspätung als quasi pünktlich aufgeführt war. Einer der Wartenden erzählte dann, er Habe einen Freund der schon im Zug sitze. Die stünden noch im letzten Bahnhof. Von der Bahn, keine Info zu nichts. Ich wünsche mir einmal wieder, jemanden am Hauptbahnhof stehen zu haben, den man anrufen könnte ob denn die S-Bahn schon zu sehen sei oder nicht. Vielleicht kann die Bahn sowas ja mal einbauen, in die Apps, es hätte mir auch hier wieder viel geholfen.

So wie es steht, ist nichts sicher bis die S-Bahn zu sehen ist. Ist sie glücklicherweise dann auch bald.

7 Minuten Verspätung, plus 7 Minuten Umsteigezeit, macht 14 0 Minuten. Geil. Die wollen noch ne Minute rausfahren. Ich ess meinen Rucksack wenn die das schaffen. Obwohl ich die Strecke noch nie in dieser Linie gefahren bin, weiß ich, dass die Bahn derart eng getaktet ist, dass man auf einem 8 Minütigen Segment ohne Haltestellen selbst im Bestfall keine 10 Sekunden rausfährt.

Die Minute verschwindet tatsächlich magisch bei Einfahrt in den Zwischenhalt. Aber nochmal etwas zurück. Wir haben gerade 8 Minuten entspannter Zugfahrt hinter uns. Was macht ein Vorbildfahrer (Nutzer?) da? Richtig. 1 Minute durch den Gang hechten, um vor den bereits wartenden Kontrolleuren aus der 1. in die 2. Klasse zu flüchten. Denn zur Sicherheit springt man natürlich zur nähesten erstbesten Tür rein. Drinn ist drinn und nicht drin nicht drinn. Ich widme den bemitleidenswerten Mitreisenden, denen nach ähnlicher Vergangenheit nun verständlicherweise dieses Detail der Klassengesellschaft entgangen war, keiner weiteren Blicke.

Es gilt das monitoring, 6 Minuten wird auf Löcher im Funkloch gewartet, in denen es den Zustand des aktuellen Zuges und des Anschlusszuges feinsäuberlich zu überwachen gilt.
Keineswegs habe ich meine Zeit darauf verschwendet, zu beobachten, wann die hypotetische gewonnene Minute verpuffte, es ist nur, dass die prognostizierte Ankunftszeit neben dem behaupteten Ankunftsgleis zu finden ist.

6 Minuten beobachte ich das Ankunftsgleis, und das Abfahrtsgleis. Immer gleich, 1 - 3. Ich bereite mich mental vor. Raus aus dem Zug, runter, rechts, rauf, nach 3, eine Treppe weiter.

Die letzte Minute, mein Blickfeld verengt sich. Ich frage den Mann mit fettem Koffer, ob ich vor ihm rausspringen könne. Er meint, er müsse auch den selben Zug erwischen, lässt mich aber vor. Ansage Ausstieg links. Ich prüfe ein letztes mal die App, der Zug hält an. 1 - 3. Mein Tunnelblick ist vollendet. Es gibt nur Treppe und Hindernisse. Ich sehe keinen Boden, es piept hinter mir, Ausstieg ist rechts.

Ich hechte rüber und raus. Das rennen beginnt. Es regnet und der Bahnsteig ist gefliest, ich rutsche drauf rum wie auf ner Bowlingbahn. Hätte bestimmt lustig ausgesehen wenn jemand zugesehen hätte, aber ist am Arsch der Welt und die einzigen Seelen sind hinter mir und beschäftigt. “Wer zum fick fliest nen Bahnsteig??” kitzelt weit hinten in meinem Kopf. Ich baue trotz auf-der-stelle-treten langsam Geschwindigkeit auf, und hechte an der Menschenwalze vorbei in den Unterführungsschacht. Unten links und rechts schilder, rechts steht in etwa 5,7 2,3. Mein Tunnelblick sieht in etwa 3 .

Ich hechte nach rechts. Zum Ende des Schachts. Ich bin nun and der Spitze der Walze. Ich nehme die Treppe rechts hoch. Sekunde. Die Menschenwalze stockt. Ich auch. Ich stehe am Fuß der Treppe, über mir ein Schild
5,7
Was zum fick? Sage ich wahrscheinlich laut, denke es auf jeden Fall.

Die Menschenwalze macht auf dem Ansatz kehrt. It’s a trap. Wie? Meine Gedanken rasen, wo ist denn Gleis 3? Hab ich ne Treppe verpasst? Warum war überhaupt beim Abstieg links ein Schild? Kacke. Ich komme zurück. Das war Gleis 3. Wir waren schon Gleis 3. Das Schild nach rechts bedeutete “5,7 in die Richtung, 2,3 hier hoch”. Können die nicht zwei verfickte Schilder aufhängen?

Egal, ich renne noch. Ich überlege kurz. Ich habe viele Fragen, aber nicht die Zeit sie zu beantworten, rennen ist schneller als denken. Vielleicht ist der Zug oben gegenüber, und die wollten nett sein. Ich muss erstmal wieder hoch und schauen wo der Zug steht, man müsste ihn ja sehen können.

Gut 10 Sekunden, und viel rutschen später, bin ich da wo ich losgerannt bin. Der Zug gegenüber unserem fährt ab. Ich bemerke zum ersten mal, dass da ein Zug war. Aber mir ist klar, die Zeit war auch ohne Beauch des Nachbargleises zum Umstieg unzureichend. Ein genauerer Blick bestätigt, es ist irgendein anderer Zug. Ich schaue mich um. Wo ist mein Zug?
Da! Auf Gleis 5! verdammte Scheiße.

T+15 Sekunden, man sieht mich in Rekreation meiner früheren schauspielerischen Leistungen erneut das Stück ›Rennen auf Bowlingbahn‹ darbieten. Runter rüber raus, wie ursprünglich geplahnt. Ich laufe mit den Menschenmassen über den finalen Bahnsteig, endlich entspannt. Die Bahn macht einem zwar die Türen vor der Nase zu, aber die Türen schließen nicht wenn Leute auf der Schwelle stehen, und eine kontinuierliche Schlange verbindet mich mit meinem Zug.

Ich steige ein, bekomme sogar noch einen Platz. Neben mir steigt der Mann ein der mich vorgelassen hatte. Ich setzte mich. Ich prüfe die Apps. Nicht aus Notwendigkeit, es ist mehr eine art Tick.

  • Redjard@lemmy.dbzer0.comOP
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    6 months ago

    Ne, aber eine Haltestelle weiter.
    Wenn man ignoriert dass der Endbahnhof ne halb-millionen Stadt ist und 90% der Fahrgäste der Linie stellt, kann ich schon verstehen wenn die die Fahrt abkürzen.

    Der Hauptkritikpunkt ist garnicht die Verspätung an sich, sondern die komplett unzuverlässive Angabe von Verspätungen.
    Manche kann ich als Leihe Stunden vorraussehen, andere müssen aus simplen physikalischen Limitierungen, der Bahn 15-30 Minuten vor Anschrieb klar gewesen sein.